Großbritannien 1952: Als Londons mörderischer Smog 12.000 Menschen tötete - WELT (2024)

Im Dezember 1952 kam wieder einmal dichter Nebel über London auf. Doch der Great Smog war anders. Die Sichtweite betrug keinen Meter, die Menschen wurden schwarz – und fielen einfach um.

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Dichten Nebel waren die Bewohner Londons seit jeher gewöhnt. Doch dieser Smog war anders. Zeugen berichteten, dass sie ihre Hände nicht mehr sehen konnten, wenn sie sie ausstreckten. In manchen Vierteln schrumpfte die Sichtweite auf einige Dutzend Zentimeter. Autofahrer mussten ihre Fahrzeuge stehen lassen, Busse und Züge blieben liegen. Doch dabei blieb es nicht. Bald kroch der Dunst durch die Fenster und Ritzen der Häuser und sogar unter die Kleidung der Menschen. Die Unterwäsche färbte sich schwarz. Und dann starben sie, zu Tausenden.

Vom 5. bis 9. Dezember 1952 raubte ein tödliches Phänomen London buchstäblich den Atem. Doch anders als bei ähnlichen Wetterlagen, die die britische Hauptstadt mit schöner Regelmäßigkeit heimsuchten, handelte es sich keineswegs um eine „pea soup“ (Erbsensuppe), von der man sich am Kamin mit einigen Gläsern Whisky erholen konnte. Der Great Smog, wie er bald genannt wurde, raffte Menschen binnen weniger Minuten dahin. Mit 12.000 Toten gilt er als eine der tödlichsten von Menschen verursachten Umweltkatastrophen in Europa.

Spätestens seit der Moloch London im 19. Jahrhundert zur größten Industrieagglomeration der Welt aufgestiegen war, gehörte die Luftverschmutzung zu den ständigen Torturen seiner Bewohner. Fabriken, Dampfschiffe, Eisenbahnen und Öfen in knapp einer Million Wohnungen sorgten in Verbindung mit dem nahen Fluss und dem feuchten Klima zumal im Winter für eine gefährliche Belastung von Lungen und Atemwegen. In der Rückschau wurde auch klar, dass es so etwas wie den Great Smog schon früher gegeben hatte, nur war dies wegen der kürzeren Dauer und den deutlich geringeren Opferzahlen niemandem aufgefallen.

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Im Dezember 1952 verbanden sich verschiedene unheilvolle Entwicklungen zu einer Katastrophe. Über dem Süden Englands hatte sich eine stabile Hochdruckzone gebildet, in die sehr kalte Luft am Boden strömte. In höheren Schichten aber herrschten ungewöhnlich warme Temperaturen, sodass kein Luftaustausch erfolgen konnte. Diese sogenannte Inversionswetterlage hielt die Schadstoffe wie unter einer Käseglocke gefangen.

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Darunter qualmte es gehörig. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Großbritannien nahezu bankrott. Die hochwertige Kohle aus den Bergwerken des Nordens wurde daher auf dem Weltmarkt verkauft, während die Bewohner in ihren Öfen minderwertige Braunkohle verfeuerten. Da es ungewöhnlich kalt war, brannten die Heizungen Tag und Nacht. Auch hatte man Anfang der 1950er-Jahre die elektrischen Straßenbahnen gegen Busse mit Dieselantrieb ersetzt. Hinzu kamen die Emissionen mehrerer Kohlekraftwerke, die wegen der Witterung am oberen Limit liefen, sowie die oft nur mangelhaft gefilterten Abgase der Industrie.

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Dieser giftige co*cktail verband sich mit Wasserdampf zu einem gefährlichen Nebel, der sogar in feste Räume eindrang. Theatervorführungen mussten abgebrochen werden, weil die Zuschauer die Bühne nicht mehr ausmachen konnten. Busse konnten nur noch bewegt werden, wenn Schaffner mit Lampen ihnen den Weg wiesen. An Häuserwänden suchten Passanten mühsam ihren Weg.

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Am 6. Dezember kam das große Sterben über die Stadt. Die Sichtweite war auf 30 Zentimeter gesunken. „Allenthalben wurden Leute von Übelkeit übermannt“, so ein Zeuge. „Sie fielen einfach hin und konnten nicht mehr atmen.“ Kliniken und Arztpraxen waren überfüllt. Krankenwagen blieben liegen. „Viele schafften es nicht mehr ins Krankenhaus und starben draußen“, erinnerte sich ein Arzt. Ihre blauen Lippen zeigten, dass sie erstickt waren. Viehhändler versuchten, ihre Tiere mit whiskygetränkten Tüchern zu retten. Als man die verendeten Rinder öffnete, fand man ihre Lungen schwarz. Die Polizei registrierte einen deutlichen Anstieg von Diebstahldelikten.

Erst viele Jahre später haben Wissenschaftler die tödliche Kettenreaktion, die über London gekommen war, entschlüsselt. Die entscheidende Ursache war demnach das Schwefeldioxid, das in großen Mengen freigesetzt wurde und sich mit den Wassertröpfchen in der Luft zu fein zerstäubter hochgiftiger Schwefelsäure verband. Die Massen an Staub und Ruß in der Luft wirkten dabei als Katalysator, der eine Abnahme des Säurewerts verhinderte. In einem Kubikmeter Luft wurde eine Schwefeldioxid-Konzentration von 3,82 Milligramm gemessen. In der Europäischen Luftqualitätsrichtlinie sind 0,5 Milligramm als Grenzwert festgelegt.

Als der Wind am 9. Dezember den Smog vertrieb und das ganze Ausmaß der Katastrophe sichtbar wurde, zählten die Behörden rund 4000 Tote. 8000 Menschen starben in den nächsten Wochen und Monaten an den Folgen der Verätzungen. In den Krankenhäusern mussten rund 150.000 Menschen behandelt werden. Eine andere Todesursache war Herzstillstand aufgrund von Kreislaufüberlastung. Dass das vor allem ältere Menschen traf, zeigte eine Studie der Regierung auf. In der Gruppe der 65- bis 75-Jährigen stieg während des Great Smog die Sterberate auf 235 Prozent des Normalwerts.

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Doch die Panik, die in der vierten Folge der Netflix-Serie „The Crown“ während des Great Smog in Szene gesetzt wird, blieb aus. Die Londoner hielten den tödlichen Dunst für den üblichen Nebel, der sie regelmäßig während des Winters überfiel und der längst zum literarischen Topos geworden war.

Dem schloss sich auch die Tory-Regierung an. Dem greisen Kriegshelden Winston Churchill, der 1951 noch einmal die Unterhauswahl gewonnen hatte, mögen die Totenzahlen verglichen mit den 30.000 Opfern des Bombenkrieges gering erschienen sein. Sein für den Katastrophenschutz zuständiger Städtebauminister Harold Macmillan erklärte, die Regierung könne nicht für das Wetter verantwortlich gemacht werden, und verwies – nicht zuletzt aus industriepolitischen Gründen – auf die Grippe.

Doch die Bevölkerung blieb skeptisch. Als sich die Stimmen mehrten, die einen Zusammenhang zwischen der Luftverschmutzung und den Todesfällen sahen, kam die Regierung nicht umhin, Untersuchungen in die Wege zu leiten. Schnell zeigte sich, dass kein Bakterium oder das Klima die Menschen getötet hatte, sondern die von ihnen verunreinigte Luft.

1956 brachte die Regierung von Churchills Nachfolger Antony Eden mit dem Clean Air Act eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg, die die Industrieanlagen sauberer und den Hausbrand von der Kohle wegführen sollten. Weitere Regelungen sollten folgen. Sie verbesserten nicht nur die Londoner Luft, sondern belegten auch, wie sehr Luftverschmutzung Menschenwerk war und ist. Den Teilnehmern der UN-Klimakonferenz, die derzeit in Kattowitz (Polen) einmal mehr um die Reduktion von Treibhausgasen ringen, sollte es als Exempel dienen.

Dieser Artikel erschien erstmals im Dezember 2018.

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