Mariss Jansons: das künstlerische Erbe eines grossen Dirigenten (2025)

Auch drei Jahre nach seinem Tod ist Mariss Jansons in der Musikwelt unvergessen: Diesen Samstag wäre der Dirigent achtzig Jahre alt geworden. Der langjährige Musikdirektor in München und Amsterdam hat ein reiches künstlerisches Erbe hinterlassen.

Julia Spinola

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Mariss Jansons: das künstlerische Erbe eines grossen Dirigenten (1)

Das Statement verriet seine Herzensbindung: Als die selbstbewussten Berliner Philharmoniker im Jahr 2015 ihren neuen Chefdirigenten wählten, liess Mariss Jansons, der zu den Favoriten des Orchesters zählte, im Voraus mitteilen, er stehe für den Posten nicht zur Verfügung. Mehr noch: Drei Tage vor der Wahl, die eine Reihe internationaler Spitzendirigenten in höchste Nervosität versetzte und von der Musikwelt wie ein Politikum verfolgt wurde, verlängerte Jansons seinen Vertrag mit einem anderen Ensemble: dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO).

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Das war ein überdeutliches Zeichen Richtung Berlin und zugleich eine öffentliche Liebeserklärung an das Münchner Orchester. Der Schritt kam indes nicht von ungefähr: Nach seinem Amtsantritt 2003 hatte Jansons das führende Rundfunkorchester Deutschlands noch einmal auf ein höheres Niveau gehoben und in die Liga der weltbesten Klangkörper katapultiert. Mit Jansons’ Tod am 1.Dezember 2019 endete denn auch eine Ära in München – aber nicht nur dort: Das Musikleben im Ganzen ist ärmer geworden ohne diesen charismatischen Interpreten, der am heutigen Samstag seinen 80.Geburtstag begangen hätte. Zum Glück ist sein künstlerisches Erbe in aussergewöhnlichem Umfang auf Tonträgern bewahrt.

Passionierter Gestaltungsdrang

Von der technischen Präzision und der elektrisierenden Ausdrucksintensität, die zu Markenzeichen von Jansons’ Aufführungen geworden sind, gibt unter anderem eine ausführliche Edition des Bayerischen Rundfunks einen nachhaltigen Eindruck (BR 900200). Sie umfasst nicht weniger als 68 CD und 2 DVD und enthält neben einem charakteristisch breitgefächerten Repertoire von Joseph Haydn bis zu Jörg Widmann auch komplette Zyklen der Sinfonien von Beethoven, Brahms und Mahler.

Was für ein charismatischer Bilderstürmer Mariss Jansons war, zeigen exemplarisch seine hochexpressiven Mahler-Interpretationen. Sie werfen einen ungewohnt weltzugewandten, lebensprallen Blick auf Mahlers musikalischen Kosmos. Jansons hat die inneren Dramaturgien dieser sinfonischen Weltentwürfe klar im Blick, lässt die Szenerien einzelner Sätze mit geradezu filmischer Suggestionskraft anschaulich werden, feilt mit sicherer Intuition an der Rhetorik kleinster Motive und dirigiert diese Musik gleichermassen mit grossem Atem wie mit erzählerischer Freiheit.

Die überbordende Musikalität und der passionierte Gestaltungsdrang waren Jansons gleichsam in die Wiege gelegt worden. 1943 als Sohn des Geigers und Dirigenten Arvīds Jansons und der Mezzosopranistin Iraida Jansons in Riga geboren, wuchs er buchstäblich im heimischen Opernhaus auf. Die Begeisterung für die Oper hat ihn sein Leben lang begleitet – davon zeugen unter anderem die DVD-Mitschnitte seiner legendären Tschaikowsky-Dirigate am Musiktheater Amsterdam. Allerdings erlaubten ihm sein Perfektionsdrang, vor allem aber seine fragile Gesundheit in späteren Jahren nur sehr selten Ausflüge in die kräftezehrenden Gefilde der Oper.

Schon als Dreijähriger hatte Mariss Jansons zu Hause alle Ballette und Opern nachgetanzt und gesungen. Ausserdem dirigierte das Kind leidenschaftlich ein Orchester aus Holzklötzchen und Knöpfen, wofür es sich jeweils abwechselnd in Proben- und Konzertgarderobe warf. Etwas später folgten ganze Hefte voller Saison- und Tourneeprogramme, die der Junge als «künstlerischer Leiter» mehrerer fiktiver Orchester entwarf. Da besuchte er bereits die Rigaer Musikschule und war auf dem Weg, sich zu einem ausgezeichneten Geiger zu entwickeln.

Ideologische Hürden

Arvīds Jansons war zu dem Zeitpunkt bereits ins damalige Leningrad übersiedelt, um neben Jewgeni Mrawinsky und Kurt Sanderling die Leningrader Philharmoniker zu dirigieren. Mutter und Sohn folgten 1956 nach, als aus der Assistentenstelle des Vaters bei Mrawinsky eine feste Position geworden war. Jansons besuchte die Sankt Petersburger Musikspezialschule, anschliessend das traditionsreiche Konservatorium, zu dessen Schülern Tschaikowsky, Prokofjew und Schostakowitsch ebenso zählten wie Jascha Heifetz oder Grigory Sokolov. Hier hatte Jansons später selbst fast dreissig Jahre lang eine Dirigierprofessur inne – neben seinen Chefpositionen in Oslo und Pittsburgh sowie festen Gastverpflichtungen beim London Philharmonic Orchestra und bei den heutigen St.Petersburger Philharmonikern.

Neben der frühen Begeisterung für Musik wurde die Bedrohung durch ideologische Totalitarismen von früher Jugend an prägend für Jansons. Die gesamte Familie seiner jüdischen Mutter war im Rigaer Ghetto von den Nationalsozialisten ermordet worden. Sie selber hatte in einem Versteck überlebt und hielt ihre Identität auch zu Sowjetzeiten geheim – so wie auch Jansons seinerseits nicht gern über sein Judentum sprach. Eine Tante, die hin und wieder kam, um den kleinen Mariss zu hüten, wurde vor den Augen des Kindes vom KGB verhaftet und nach Sibirien verschleppt.

Jansons selbst wurde am Beginn seiner Musikerkarriere von der Politbürokratie mancher Stein in den Weg gelegt. Als Herbert von Karajan 1968 in der Leningrader Philharmonie einen Meisterkurs abhielt und von Jansons’ Brahms-Interpretation so begeistert war, dass er ihn auf der Stelle als Assistenten nach Berlin verpflichten wollte, machten ihm die Funktionäre zunächst einen Strich durch die Rechnung: Studenten durften nicht ins Ausland reisen. Und sogar noch als etablierter, gestandener Dirigent musste Jansons 1979 seinen Chefposten in Oslo ohne offizielle Erlaubnis antreten.

Struktur und Poesie

Bei einem Besuch in seiner Petersburger Wohnung im Tolstoi-Haus des Jugendstil-Architekten Fedor Lidval am Fontanka-Fluss gewährte Jansons einmal einen Blick in seine Partituren. Zum Teil handelte es sich um wertvolle Erbstücke aus Arvīds Jansons’ Rigaer Zeit mit Eintragungen des einstigen Berliner Generalmusikdirektors Leo Blech, den die Emigration vorübergehend ans Rigaer Opernhaus verschlagen hatte. Schicht um Schicht wurden hier während Jahrzehnten die jeweils neuesten Erfahrungen mit einer Komposition festgehalten, liebevoll und sorgfältig wie in einem Album.

Jansons verbrachte sehr viel Zeit mit seinen Partituren, da er sich selbst auf Werke, die er schon häufig dirigiert hatte, von Grund auf neu vorbereitete. An seinen eigenen Eintragungen erkannte man sofort seinen Probenstil wieder, bildeten sie doch eine Synthese aus analytisch-strukturellen Bemerkungen, technischen Hinweisen und poetischen Annotationen, die unmittelbar die Seele der Musik zu beschwören schienen. Solche bildhaften Assoziationen führten auf den Proben oft spontan zu einem Klangergebnis, das Struktur und Charakter der jeweiligen Stelle punktgenau traf.

Einen Eindruck von Jansons’ Arbeitsstil vermitteln vier CD aus der BR-Reihe «Dirigenten bei der Probe» (BR 900934). Hier kann man verfolgen, wie er mit dem Orchester die Tondichtungen «Ein Heldenleben» und «Don Juan» von Richard Strauss, Beethovens Fünfte und die 2.Sinfonie von Sibelius erarbeitet hat. Und man hört ganz unmittelbar, wie Jansons’ Anweisungen das Klangbild verändern und welche Bilder und Vorstellungen hinter seinen sehr plastischen Interpretationen stehen.

Im «Hexensabbat» aus Berlioz’ «Symphonie fantastique» etwa malte er dem Orchester die gespenstische Atmosphäre, in der sich der Held nach seinem Opiumrausch wiederfindet, wie in einem Drehbuch zu einem Horrorfilm aus: dunkel und feucht sei es dort, und Monster gingen herum. «Plötzlich kommt eins: Hahahahaha!» – Jansons ahmt das Höllengelächter der Bläser nach: «Ein satanisches Lachen», das er «staccatissimo» artikuliert haben möchte. Jansons verlangte viel von seinen Musikern, pflegte aber stets einen kollegialen Ton. Despotisches Gebaren am Pult war ihm fremd.

Lebensnotwendige geistige Nahrung

Die spezifische Verbindung von Präzision und Charisma verdankte Jansons nicht zuletzt jenen drei sehr unterschiedlichen Lehrern, die ihn geprägt haben: zum einen der hypnotisch-intensiven Persönlichkeit Mrawinskys, den er zeitlebens über die Massen bewunderte und der ihn 1971, wie einst den Vater, zu seinem Assistenten machte. Zum zweiten dem strengen Geist des Schönberg-Schülers Hans Swarowsky, bei dem Jansons im Rahmen eines Austauschprogramms von 1969 an in Wien studierte. Und schliesslich dann doch noch dem Pultmagier Karajan. Denn einmal im Westen gelandet, griff Jansons zum Telefon und wurde von Karajan prompt eingeladen, ihm während der Salzburger Oster- und Sommerfestspiele zu assistieren.

Musik war für Mariss Jansons früh auch ein Ort der inneren Resistenz. So erstaunt es nicht, dass er ein berufener Schostakowitsch-Interpret war. In Schostakowitschs chiffrierten sinfonischen Gratwanderungen mit ihren brütenden Trauermusiken, irrealen Erfüllungen, grotesk überdrehten Märschen und unverhohlen gewalttätigen Scherzi findet Jansons jenen Schmerz und jenen Abgrund, den seine Mahler-Deutungen eher ausblenden. Die Intensität, Präzision und Präsenz dieser Interpretationen, wie überhaupt jener des russischen Repertoires von Mussorgsky und Tschaikowsky bis zu Strawinsky und Schtschedrin, sind durchgehend verblüffend.

Bis zuletzt war Jansons Arbeit geprägt von der tiefen Überzeugung, dass Kunst lebensnotwendige geistige Nahrung sei. Dafür hat er sich bis an die Grenzen exzessiv verausgabt und seine nach mehreren Herzinfarkten beeinträchtigte Gesundheit immer wieder aufs Spiel gesetzt. Bis 2015 leitete er neben dem BRSO auch das Concertgebouworkest in Amsterdam. Als die Doppelbelastung nicht mehr möglich war, entschied er sich für die Münchner. Am 8.November 2019 dirigierte Jansons während einer New-York-Reise mit dem BRSO in der Carnegie Hall sein letztes Konzert.

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